1950 er

 „Transvestitenscheine“ schützten vor Verhaftungen

Die Diskriminierung geht in der jungen Bundesrepublik weiter.

Toni Simon, geboren als Anton Simon 
15. März 1887 - 28. Januar 1979.
Dieses Foto und weitere Informationen haben die Forscher*innen  im Staatsarchiv Ludwigsburg entdeckt.
Hintergrund

Diese Fotocollage gestaltete Toni Simon anlässlich ihres 
70. Geburtstags und sandte sie als Postkarte an Freunde und Bekannte. Die Collage zeigt Toni Simon in den verschiedenen Stadien ihres Lebens, als junger Mann in ziviler und militärischer Kleidung, in ihren älteren Jahren ausschließlich als Frau. Toni Simon, die seit den 1950er Jahren in einem Wohnwagen in Kornwestheim wohnte und als Original der Stuttgarter Homosexuellenszene galt, hatte von den westdeutschen Behörden eine offizielle Erlaubnis erhalten, Frauenkleider zu tragen und ihren Namen zu ändern. In den 1920er und frühen 1930er Jahren war Simon allerdings wegen ihrer Aufmachung verschiedentlich in Konflikt mit der Staatsgewalt geraten. Über ihr Leben während der nationalsozialistischen Zeit ist nur wenig bekannt. Mit offizieller Genehmigung änderte sie ihren vorigen Namen Anton in Toni und trat im öffentlichen Raum in Frauenkleidern auf, in denen sie auch ihren Beruf als Prüferin von Hochspannungsmasten ausübte. Inwieweit der Umgang der Behörden mit Toni Simon für Südwestdeutschland eine Ausnahme darstellte und wie die badische und württembergische Polizei in weiteren Fällen Transvestit_innen begegnete, muss ausführlich untersucht werden. Armut und Gewalt begleiteten das Leben in einer feindseligen Gesellschaft.
Hintergrund

Transsexualität oder Transgender als eigenes Konzept und eigene Identitätskategorie gab es vor den 1970er Jahren nicht. Menschen jedoch, die die Kleidung und soziale Rolle des „anderen“ Geschlechts einnahmen, lassen sich bis in die früheste Geschichte nachweisen. Magnus Hirschfeld prägte den Begriff des „Transvestismus“ als „heftigen Drang, in der Kleidung desjenigen Geschlechts zu leben, dem die Betreffenden ihrem Körperbau nach nicht angehören“. Der Wunsch nach operativen oder hormonellen Eingriffen zur Geschlechtsumwandlung galt lange Zeit als extreme Form des Transvestismus. Welche Identitätsangebote gab es für transsexuelle und transgender Menschen in der südwestdeutschen Provinz? Gab es transvestitische Subkulturen oder Verbindungen mit anderen Kulturen in Baden-Württemberg und Hohenzollern? Wurden im südwestdeutschen Raum operative oder hormonelle Geschlechtsumwandlungen durchgeführt? Dies ist noch nicht abschließend erforscht. Bis in die nationalsozialistische Zeit hinein und auch in den konservativen 1950er und 1960er Jahren konnten Behörden Transvestit_innen durchaus entgegenkommen. Sogenannte „Transvestitenscheine“, die auf ärztlichen Gutachten beruhten, schützen ihre Träger_innen bei Polizeikontrollen vor Festnahmen. In einigen Fällen sind auch genehmigte Änderungen des Vornamens bekannt, so zum Beispiel im Falle der Stuttgarterin Toni Simons. „Transvestitenscheine“ schützten vor Verhaftungen.

Aufgrund eines Urteils durch das Sondergericht Stuttgart vom 23.10.1937 wurde sie wegen „Heimtücke“ (politischer Beschimpfung nach § 2 Abs. 1 u. 2 des Ges. v. 20.12.1934) zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt.  Aus der Quelle geht hervor, dass Toni Simon sich offenbar über die politische Situation, das NS-Regime und die NS-Elite abwertend äußerte. So muss sie laut Urteilsbegründung im Frühjahr 1937 in der Wohnstube einer ihr bekannten Familie, in der auch deren Angestellte zugegen waren, gesagt haben: „An der Regierung sind Idioten und Lausbuben, die Regierung versteht nichts, das sind nur Idioten, die kommen seiner Lebtag [sic.] nicht weit und eines Tages hört es auf.“ Laut Abschrift des Urteils des „Sondergerichts für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart“ schimpfte Simon wiederholt über die Mitglieder der NS-Regierung und bezeichnete diese u.a. als „Idioten und Hampelmänner“. Eine Rundfunkrede des Reichspropagandaministers Josef Goebbels kommentierte Simon so: „Der Idiot kann leicht sprechen, er wird ja dafür bezahlt.“ Transsexualität oder Transgender als eigenes Konzept und eigene Identitätskategorie gab es vor den 1970er Jahren nicht. 

Aus dem Antrag auf Wiedergutmachung und den beiliegenden Unterlagen geht hervor, dass Simon die Strafe aus dem Jahr 1937 in der Strafanstalt Rottenburg am Neckar verbüßte. Am 11. Mai 1938 wurde sie aufgrund des „Gesetzes über die Gewinnung von Straffreiheit“ vom 30.4.1938 amnestiert und ihre Reststrafe in drei Jahre Bewährung umgewandelt. Nach ihrer Entlassung arbeitete Simon in einem metallverarbeitenden Betrieb. Dort, so Simon am 2.5.1952 auf einer öffentlichen Sitzung der Entschädigungskammer II des Landgerichts Ludwigsburg, sei ihr „ein Missgeschick passiert“, worüber sie sich geärgert habe. Daraufhin habe sie den Arbeitsplatz verlassen und sei in der Stadt einen Kaffee trinken gegangen. Dann sei die Gestapo gekommen und habe sie verhaftet. Über die genaueren Umstände dieser Ereignisse gibt es keine weiteren Angaben und auch Unterlagen zum folgenden Prozess fehlen. Simon wurde erneut verurteilt und Ende 1939 im Polizeigefängnis Welzheim inhaftiert, wo sie sechs Monate verbringen musste.

Toni Simons Wiedergutmachungsantrag

Toni Simons Akte löst eine Reihe von Fragen aus zu ihren komplexen und nicht immer leicht nachvollziehbaren Lebensumständen und zu ihren Überlebensstrategien, wozu sicherlich Maßnahmen zur Verschleierung zählten. Die Akte zeigt aber deutlich, dass die Wiedergutmachungsbehörde in keinem Fall bereit war, Sachverhalte zugunsten der Antragstellerin auszulegen.

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Heute

Trans* ist ein Überbegriff für transsexuelle, transidente und transgender Menschen, also für alle Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden. Transgender: Transgender ist ein Überbegriff für alle Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden. Die Geschlechtsidentität ist hier nicht nur auf die Positionen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ beschränkt, sondern wird als unendliches Spektrum gesehen. Transsexuell, Transsexualität / transsexual, transsexuality: Transsexuell ist ein Begriff für alle Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, dem sie bei der Geburt zugewiesen wurden. Die Geschlechtsidentität ist hier meistens nur auf die beiden Pole ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ verengt. Der Begriff kommt aus einem medizinischen Kontext und wird deshalb inzwischen von vielen trans* Personen abgelehnt.
Trans* / Inter* und Polizei

Neue Einstellungsvoraussetzungen ermöglichen es trans* und inter* Personen, zur Ausbildung im Polizeivollzugsdienst zugelassen zu werden.

Bei der 213. Sitzung der Innenministerkonferenz im Dezember 2020 wurde eine neue Polizeidienstvorschrift (PDV 300) beschlossen. Hierdurch wurden trans* und inter*-diskriminierende Barrieren für den Einstieg in den Polizeivollzugsdienst beseitigt.

Die neue PDV 300 ist am 01.01.2021 bundesweit in Kraft getreten und ist ein starkes Signal zum Abbau von Vorurteilen und Stigmatisierung gegenüber trans* und inter* Personen.Im Einstellungs- Auswahlverfahren müssen Bewerber*innen sportliche, schriftliche und gesundheitliche Voraussetzungen erfüllen. Die PDV 300 beinhaltet die gesundheitlichen Einstellungsvoraussetzungen, an denen sich die Polizeiärztlichen Dienste orientieren, um Personen als polizeidiensttauglich bzw. -untauglich einzustufen. Noch bis Ende 2020 war diese Vorschrift teilweise in männliche und weibliche Voraussetzungen unterteilt. Dies ist nun nicht mehr der Fall. Es wurden keine zusätzliche, dritte Geschlechtskategorie für diverse Bewerber*innen, sondern einheitliche Voraussetzungen für alle eingeführt.

Hierzu wurde vorwiegend eine genderneutrale Sprache verwendet. Zudem verlangte die binärgeschlechtliche Einteilung cis-normative Eigenschaften. Diese an hormonelle Werte und Geschlechtsorganen verknüpften Bedingungen für Männer und Frauen konnten von trans* und inter* Bewerber*innen nicht erfüllt werden.

Nunmehr ist es Berufsinteressierten unterschiedlichster Geschlechtseinträge und Geschlechtsidentitäten möglich, unabhängig ihrer Hormonwerte oder Geschlechts-merkmale als polizeidiensttauglich eingestuft und somit zur Ausbildung zugelassen zu werden.Für diejenigen, die erst nach der Einstellung herausfanden, trans* oder inter* zu sein und sich derzeit noch in der Ausbildung oder Probezeit befinden dürfte es in Bezug auf die PDV 300 keinen Grund mehr geben, mit dem Outing bis zur Verbeamtung auf Lebzeit zu warten. 

Sich länger der psychischen Belastung eines Doppellebens auszusetzen kann gesundheitliche Folgen mit sich bringen. Polizeibehörden haben jetzt die Aufgabe im Rahmen Ihrer Fürsorgepflicht aktiv Outing-Unterstützung anzubieten.Die Innenministerien folgen mit der Reform der PDV 300 zudem einer Unterrichtung des Europäischen Parlaments von 1989. In dieser Unterrichtung wurde Deutschland dazu aufgefordert, Maßnahmen zur chancengleichheit für trans* Personen auf dem Arbeitsmarkt einzuleiten, da bereits in den 80er Jahren die überdurchschnittlich hohe, auf Vorurteilen und Diskriminierung basierende Arbeitslosenrate bei trans* Personen bekannt war.

Quelle: VelsPol.de

Die Bundeswehr - ein Vorbild für die Polizei?

Vor  einigen Jahren entschied sich Anastasia Biefang, Kommandeurin eines Bundeswehr-Bataillons, für eine Geschlechtsangleichung. 
Anastasia Biefang erhielt bei ihrer Geburt das Geschlecht „männlich" zugewiesen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bei der Bundeswehr entschied sie, zukünftig als Frau zu leben.  Die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung hat mit ihr über ihre Erfahrungen und ihr Engagement für queere Menschen in der Bundeswehr gesprochen. Sie hat von ihrer Transition vom Mann zur Frau erzählt, von ihrem Start in Storkow und davon, wie hilfreich Hierarchien sein können.

Quelle: Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung

Video

Quelle: https://www.lsbttiq-bw.de/historischer-kontext/repressionen/repressionen- gehen-transgender-und-transsexuelle/ (Text und Fotos) Schwules Museum* Berlin, Bestand die runde. https://rosawinkel.kulturring.berlin/?biografie=bruno-erfurth
https://www.lsbttiq-bw.de/2016/09/30/ha-waisch-die-saget-halt-oifach-toni-zur-formierung-des-selbst-in-der-fotocollage-des-stuttgarter-originals-toni-simon/
https://www.lsbttiq-bw.de/2017/07/04/aussergewoehnlicher-aktenfund-im-staatsarchiv-ludiwgsburg/#comment-67
https://www.lsbttiq-bw.de/2017/12/21/wiedergutmachung-von-transvestiten-und-damenimitatoren-nach-1945/#comment-132
https://www.lsbttiq-bw.de/ueber-das-projekt/
https://queer-lexikon.net/trans/
https://www.youtube.com/watch?v=l3JegXPmW0g

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